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Informationsdienst Wissenschaft (idw), 07.02.2006
Nebenwirkungen von Medikamenten - systematisch übersehen?
Überprüfung von weltweiten Studien zu Cholesterinsenkern offenbaren
erhebliche Mängel - Jedes vierte bis fünfte Medikament muss nach der
Zulassung noch von unerwarteten Nebenwirkungen bereinigt werden - Selbst die "Flaggschiffe der Medizin" betroffen
Wissen Patienten und Ärzte tatsächlich genau, welche Nebenwirkungen
die verabreichten Medikamente haben? Und richtet sich schon in den klinischen
Studien, die zumeist von Pharmaunternehmen finanziert werden, die Konzentration allzusehr auf die Hauptwirkung eines
Präparats, sodass Nebenwirkungen nur unzulänglich erfasst werden? Eine
aktuelle Studie des Klinischen Psychologen und Psychotherapeuten Professor Dr. Winfried Rief von
der Philipps-Universität Marburg, die er an der Harvard Medical School in Boston,
USA, durchführte, zeigt, dass selbst sehr große und aufwändige klinische Studien
erhebliche Mängel bei der Ermittlung von Nebenwirkungen aufweisen. Unter dem
Titel "Medication-attributed side effects in placebo groups: Implications for the
assessment of side effects" erschien sie jüngst im hochrenommierten Fachjournal
"Archives of Internal Medicine".
"Ausgangspunkt unserer Überlegungen", erklärt Rief, "war die Tatsache,
dass bei zwanzig bis 25 Prozent aller zugelassenen Medikamente noch nach der Zulassung
das Wirkprofil verändert werden muss, weil plötzlich bislang unbekannte
Nebenwirkungen auftreten - dann also, wenn alle klinischen Studien bereits
abgeschlossen sind!" Die Arbeitsgruppe um Rief untersuchte daraufhin über
vierzig klinische Studien weltweit - darunter auch die "Flaggschiffe der Medizin"
(Rief) mit jeweils zwei mal 10.000 Patienten (je eine Gruppe erhielt das
Medikament, die andere ein Placebo). "Wir haben ausschließlich Studien
zu Statinen analysiert, weil diese Gruppe von Medikamenten die weltweit
bestuntersuchte ist." Statine sind Cholesterinsenker, die etwa zur Vorbeugung
gegen Herzinfarkt und Hirnschlag verabreicht werden. "Außerdem haben wir nur die Placebo-Gruppen berücksichtigt, um
sicherzustellen, dass unsere Ergebnisse unabhängig von der chemischen
Wirkung der Medikamente sind."
Dabei zeigte sich Erstaunliches. Unter anderem variierte die Anzahl der
Nebenwirkungen in unterschiedlichen Studien enorm. "Beispielsweise wurde bei
einer Studie in zwölf Prozent der Fälle von Bauchschmerzen berichtetet, bei einer
Vergleichsstudie nur in einem Prozent, obwohl beide Male Placebos verabreicht
wurden." Wissenschaftlich gesehen seien solche Differenzen "völlig unverständlich", so Rief, zumal
Bauchschmerzen ohnehin zu den Alltagsbeschwerden gehören und somit eine gewisse Grundwahrscheinlichkeit
aufweisen. In einer zweiten Analyse fand Rief zudem heraus, dass Alltagsbeschwerden in manchen
Studien wesentlich seltener berichtet wurden, als angesichts ihrer Grundwahrscheinlichkeit in der Alltagsbevölkerung hätte
vermutet werden müssen. Und schließlich zeigte sich auch, dass Studienärzte
ebenso wie Patienten zahlreiche Nebenwirkungen auf das Medikament zurückführten - selbst dann, wenn der Patient in der Placebogruppe
war.
"Die Gründe für solche verwirrenden Befunde sind vielfältig", erklärt
Rief. Unter anderem seien viele Studien so geplant, dass "für den therapeutischen Zweck ein
sehr gutes Maßband, für die Nebenwirkungen aber nur ein grobes Raster"
angelegt wird. Beispielsweise schätzen die Organisatoren der Studien ab, bei
wievielen Patienten eine positive Wirkung zu erwarten ist, und legen daraufhin die
Zahl der Studienteilnehmer gerade so groß fest, dass die Hauptwirkung des
Medikaments noch sicher nachgewiesen werden kann. "Die Nebenwirkungen
aber treten mit einer viel geringeren Wahrscheinlichkeit als die Hauptwirkung auf", so
Rief, "sodass die Stichprobe in der Regel viel größer sein müsste, um auch die
Nebenwirkungen sicher nachzuweisen."
Zudem begehen Studienärzte ebenso wie Patienten zahlreiche Fehler bei
der Beurteilung von Beschwerden: "Oft werden sie dem Medikament zugeordnet,
obwohl sie zum Beispiel nur das Ergebnis übermäßigen Kaffeekonsums sind.
Häufig geschieht aber auch das genaue Gegenteil: Die Folgen des Kaffeekonsums werden dem Medikament angelastet." Ein
besonders schwerwiegender Mangel zeige sich auch in der Erfassung von
medizinisch besonders kritischen Symptomen, fügt Rief hinzu: "Bei muskulärer Schwäche etwa, die für den
Patienten bei Einnahme von Statinen sehr gefährlich werden kann, sollte man
davon ausgehen können, dass dieses Symptom besonders präzise erfasst wird -
tatsächlich aber ist dies nicht der Fall."
Aus seinen Ergebnissen leitet Rief nun mehrere Forderungen an klinische Studien
ab. "Zum einen muss die Qualität der Mess- und Erfassungsinstrumente sowohl in
Bezug auf die Haupt- als auch auf die Nebenwirkung eines Medikaments gleich
hoch sein!", so Rief. Zudem müssen auch Studienabbrecher im Endergebnis einer
Studie berücksichtigt werden: "Wenn ein Patient die Teilnahme wegen großer
Nebenwirkungen abbricht, gehen seine Daten oft nicht mehr in die Statistik der
Nebenwirkungen ein." Dabei seien gerade die Berichte dieser Patienten von
besonderem Interesse.
Und schließlich müsse auch die Grundwahrscheinlichkeit von Alltagsbeschwerden
viel stärker Eingang in die Auswertungen finden, weil letztlich nur die Abweichung
von dieser "baseline" signifikante Ergebnisse hervorbringt. Erst wenn all dies
berücksichtigt ist, werden sich "Patienten und Ärzte sicher fühlen können: Weder
werden sie von einer wissenschaftlich nicht haltbaren und überlangen Liste von
Nebenwirkungen eines eigentlich indizierten Präparats abgeschreckt,
noch müssen sie unbekannte Risiken eingehen", erklärt Rief.
Kontakt
Professor Dr. Winfried Rief
Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Psychologie
Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie
Gutenbergstraße 18, 35037 Marburg
Tel.: (06421) 28 23657
E-Mail: rief@staff.uni-marburg.de
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