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Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.08.2001
AOK-Vorsitzende Christine Lüer fordert grundlegende Reformen
Eine radikale Änderung der Strukturen im Gesundheitswesen hat die Vorstandsvorsitzende
der AOK Niedersachsen, Christine Lüer, gefordert. In letzter Konsequenz gehöre zu einer grundlegenden
Reform auch die Abschaffung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), sagte Lüer am Donnerstag gegenüber
dieser Zeitung. Denn solange allein die KV über die Verteilung der Gelder an die Ärzte bestimme und die
gesetzlichen Krankenkassen den Topf mit den Beitragseinnahmen lediglich verwalteten, gebe es nicht genügend
Handlungsspielräume für einen funktionierenden Wettbewerb. Es sei nach 100 Jahren an der Zeit, sich vom
„KV-Denken“ wegzubewegen. Das bestehende System nennt die AOK-Chefin „nicht mehr zeitgemäß“.
Jegliche Reformbemühungen enden nach Lüers Ansicht in Verteilungskämpfen. „Wir bauen Systeme um
die Ärzte herum, um die Krankenhäuser, und dann wollen alle nur ihre eigenen Höfe verteidigen. An
die Patienten denkt keiner mehr.“ Das Gesundheitswesen in Deutschland leide nicht an einem Knappheitsproblem. Im
Gegenteil: „Es gibt zu viele Ärzte.“ Mancherorts gebe es dreimal so viele Fachärzte wie tatsächlich
benötigt werden, sagte Lüer. „Wenn eine Praxis dicht machen muss, kommt eben der nächste Mediziner.“
Die AOK-Vorstandsvorsitzende verlangt mehr Einfluss auf die Preisgestaltung. Ihr schwebt ein „Einkaufsmodell“ vor.
Danach suchen sich die Krankenkassen Ärzte, Therapeuten, Apotheken oder Krankenhäuser weitgehend eigenständig
aus. „Ich will selbst verhandeln“, sagte Lüer. Dann sei auch besser möglich, dass jede Kasse spezielle
Versorgungsformen anbietet wie die besondere Betreuung Diabetikern. Die nach der jüngsten Gesundheitsreform
möglichen Kooperationsverträge mit Arztpraxen, Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen hält Lüer
für nicht praktikabel. „Das Modell der integrierten Versorgung funktioniert nicht.“
Die von Gesundheitspolitikern angeregte Diskussion über einen Katalog von Grund- und Wahlleistungen für
Versicherte hält die AOK-Chefin für „unseriös und zu schlicht“. Es sei doch gar nicht zu definieren,
welche Leistungen medizinisch notwendig seien und welche nicht. Das sei nur ein „bequemer Weg, mehr Geld ins System
zu pumpen“. Zudem befürchtet Lüer, dass die Ärzte ihren Patienten dann über das medizinisch
Notwendige hinaus privat versicherte, aber unnötige Wahlleistungen verkauften.
Mehr Eigenverantwortung dürfe man den Versicherten nicht ohne eine verstärkte Gesundheitsvorsorge überlassen,
meint Lüer. Die AOK Niedersachsen beschäftigt nach ihren Angaben 243 Fachkräfte, die sich um Prävention
kümmern. Im vergangenen Jahr berieten sie 60 000 Mitglieder.
Copyright © 2001 Hannoversche Allgemeine Zeitung
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